Herbarium ist ein Begriff, den die meisten Menschen schon mal gehört haben. Wirklich eine Vorstellung davon haben aber nur wenige. Allenfalls hat der eine oder andere schon mal Pflanzen für ein Schulherbarium gesammelt. Dass Herbarien aber auch im 21. Jahrhundert eine Daseinsberechtigung haben und dass der Prozess des Herbarisierens für das Studium der Pflanzenwelt nach wie vor unerlässlich ist, wurde in einem Workshop in der ar/ge kunst am 30. September 2020 in Bozen deutlich. Geleitet wurde dieser von Andreas Hilpold, Botaniker bei Eurac Research und Projektkoordinator des Biodiversitätsmonitorings Südtirol, sowie von Petra Mair, Botanikerin am Naturmuseum Bozen mit Schwerpunkt Moosen.
Der Herbarium Workshop ist Teil des öffentlichen Programmes zur Ausstellung „Brutal Family Roots“ von Mohammed Boroussia, die in der ar/ge kunst noch bis zum 14. November 2020 läuft. Die Idee für die Aktion stammt von der Kulturorganisation BAU. Realisiert wurde sie von BAU in Zusammenarbeit mit Eurac Research und dem Naturmuseum.
Gemeinsam mit den zwei Botanikern näherten sich die Workshop-TeilnehmerInnen dem Prozess des Herbarisierens an. Fragen wie ‚Was sind Herbarbelege?‘ ‚Welche Fundumstände werden beim Sammeln dokumentiert?‘ ‚Was bedeutet es ein Herbarium zu kuratieren?‘ wurden dabei genauso behandelt wie der Unterschied zwischen einem Herbarbogen und einem Kunstwerk? Im zweiten Teil des Workshops mussten die Teilnehmer selbst Hand anlegen: jede/r sammelte im Hof des Hauses Welponer eine wildwachsende Pflanze, erstellte ein Herbaretikett und legte es in die Pflanzenpresse. Die Herbarbelege liegen mittlerweile schön säuberlich gepresst und beschriftet zum Abholen bereit: vielleicht stellen sie das erste Stück einer zukünftigen Pflanzensammlung dar, also eines Herbariums!
Die Ausstellung Brutal Family Roots des franko-algerischen Künstlers Mohamed Bourouissa macht Formen der Zusammenarbeit und Dialog mit unterschiedlichen Subjektivitäten sichtbar: neben einem Psychiater und einem Passanten verleiht er der Pflanze eine wichtige Stimme. Den Künstler interessieren Migrationsumstände von Pflanzenarten, ihre historischen Verbindungen mit kolonialen Expeditionen und die trennende Einteilung in heimische, fremde und invasive Arten. In der Videoinstallation Incomplete Herbarium (2020) ergänzt der Künstler ein in der öffentlichen Bibliothek von Blida gefundenes anonymes Herbarium und hinterfragt Kategorisierungen und Taxonomien.
Viele Fragen, die sich Bourouissa stellt, tauchen auch mit der Beschäftigung der Südtiroler Flora auf, ganz besonders im Stadtgebiet Bozens. Auch die Flora in Bozen besteht zu einem großen Teil aus nicht autochthonen Pflanzen, die Fragen zu Herkunft, Zugehörigkeit und das Einteilen in Kategorien aufwerfen. Ein Zusammenhang der dem Thema Herbarium eine besondere Aktualität verleiht
Der Herbarium Workshop ist Teil der Workshop-Serie savoir-vivre, die ausgehend vom Ausstellungsprogramm konzipiert ist. Inspiriert von der Relektüre der Begriffe “savoir/pouvoir” von Gayatri Spivak, einer Mitbegründerin der postkolonialen Theorie, wird wissen nicht nur mit Macht, sondern mit können (pouvoir/ to be able to) verknüpft. Durch die Verbindung der beiden Verben, wird die Institution als Handlungsraum gelesen, wo unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen ein kollektives Wissen produzieren.